Adel Theodor Khoury
Der Weg Gottes, wie er im Koran festgelegt ist, wird den gläubigen Muslimen durch den Propheten Muhammad verkündet und verbindlich erklärt. Denn Muhammad ist auch der beste und authentische Interpret der göttlichen Offenbarung. So gilt der Weg des Propheten (Sunna) als die zweite Hauptquelle des Islams und eine verbindliche Grundlage des islamischen Gesetzes. Die Art und Weise, wie er inmitten seiner Gemeinde lebte und sie auf den Wegen Gottes führte, seine Sprüche, durch die er lobte oder tadelte, sein Schweigen, all das wurde nach seinem Tod durch verschiedene Gewährsmänner erzählt. Ihre Erzählungen und Berichte (Hadith) wurden gesammelt und bilden seitdem die Grundlage der islamischen Überlieferung.
1. Absolutheitsanspruch und Totalitätsanspruch des Islam
Ausgehend von der koranischen Offenbarung und der prophe¬tischen Tradition erhebt der Islam den Anspruch, die letzt¬gültige Gestalt der Religion zu sein. Nach dem Judentum, das Mose im Tora-Gesetz verkündet und gestaltet hat, und nach dem Christentum, das im Evangelium Jesu Christi verankert ist, sei nun der Islam der endgültige Höhepunkt der Prophetenge¬schichte. Er stelle die reine Form der Religion dar, wie er sie von Abraham, dem Vater aller Gläubigen, geerbt habe (vgl. Koran 3,68). Muhammad sei “das Siegel der Propheten” (33,40), und der Islam die einzig wahre Religion (3,19). Alle anderen Religionen haben damit ihre universale Geltung verloren.
Der Islam erhebt auch einen Totalitätsanspruch, d.h. er beansprucht, Gottes Recht in allen Bereichen des Lebens durchzusetzen, und zwar im Hinblick auf die einzelnen wie auf die Gemeinschaft und den Staat. So kennt der Islam keine Trennung von Religion und Staat, von Glaubensgemeinschaft und politischer Gesellschaft. Die islamische Gemeinschaft und auch alle Gemeinschaften, die im islamisch regierten Staat leben, stehen unter dem Gesetz Gottes und haben nach seinen Bestimmungen zu handeln. Gottes Recht dient als Richtschnur der politischen Entscheidungen der Regierung, als Grundsatz staatlicher Institutionen und als Maßstab zur Bestätigung der Autorität des Staates oder zur Verurteilung seiner Abweichun¬gen bzw. seiner Willkür.
Das Gesetz Gottes, das im Koran grundgelegt ist und in der Sunna seine authentische Interpretation und vorbildliche Anwendung gefunden hat, ist das Grundgesetz des islamischen Staates. Legislative und Regierung haben sich daran zu halten und zu orientieren. Ihre Zuständigkeit und ihre Handlungs¬möglichkeit bestehen lediglich darin, Anwendungsgesetze zu verabschieden zur Regelung konkreter Anliegen, und zwar auch nur in den Fällen, für die der Koran und die Sunna nicht bereits konkrete Lösungen festgelegt haben. Desgleichen ist die Rechtsprechung an den Inhalt des Korans und der Sunna gebunden. Einen Ermessensraum hat der Richter nur dort, wo Koran und Sunna keine genauen Angaben enthalten. Eine wichtige Funktion im islamischen Staat übernimmt der Rechts¬gelehrte. Er ist Berater, aber auch Kontrollinstanz für die verschiedenen Ämter in Staat, Verwaltung und Justiz.
Aufgrund dieser Bindung des politischen Lebens in der islamischen Gesellschaft an das von Gott in seiner Offenba¬rung erlassene und von Muhammad in seiner Überlieferung zur Anwendung gebrachte und authentisch interpretierte Gesetz wird der islamische Staat als Theokratie bezeichnet. Ziel der politischen Struktur dieser islamischen Theokratie ist, die Rechte Gottes zur Geltung zu bringen und die Rechte und Interessen der islamischen Gemeinschaft, wie sie das Gesetz Gottes sieht und festlegt, zu sichern. Der Staat hat auch die Aufgabe, von den Untertanen Gehorsam gegen das Gesetz Gottes zu fordern und die Bestimmungen dieses Gesetzes im prakti-schen Leben durchzusetzen. Den Regierenden ist dafür Autori¬tät und Vollmacht verliehen, um die Herrschaft Gottes und die Vorherrschaft des Islams zu festigen und auszudehnen.
So erhebt der Leiter der islamischen Gesellschaft, der Khalif, den Anspruch, Nachfolger des Propheten Muhammad als Haupt der religiösen Gemeinschaft und zugleich politischer Führer des islamischen Staates zu sein. Daher kann er von den Gläubigen Gehorsam und von allen Untertanen politische Loyalität fordern. Er selbst aber muss die Vorschriften des Korans und die gesetzlichen Bestimmungen kennen oder sich dieses Wissen bei fachkundigen Beratern (Rechtsgelehrten) holen. Auch bei sonstigen Entscheidungen, die das konkrete Leben und die politischen Interessen der Gemeinschaft betreffen, ist der Regierungschef verpflichtet, andere Mitglieder der Gemeinschaft zu Rate zu ziehen (vgl. Koran 3,159; 42,39). Der Koran präzisiert nicht, wie diese Beratung erfolgen soll, er schreibt daher keine näher bestimmte Staatsform vor. Er hat aber mit dieser Maßnahme die Autorität und die unentbehrliche Rolle der Rechtsgelehrten (Fuqaha, Ulama , Mufti, Ayatullah) festgestellt und verankert.
2. Universalanspruch des Islams
Der Anspruch des Islams, “die beste Gemeinschaft unter den Menschen” (Koran 3,110) hervorzubringen und den Gottesstaat auf Erden zu errichten, hat zur Gestaltung eines Lebens¬modells geführt, in dem Gottes Autorität konkrete Institutio¬nen und Entscheidun¬gen sanktioniert und die freie Initiative des Menschen stark einengt.
Noch schwerer wiegend wirkte sich der Universalanspruch des Islams auf die Beziehungen des islamischen Staates zu anderen Staaten aus. Kraft dieses Anspruchs proklamiert der Islam sein Modell eines Gottesstaates als universal gültig und als de iure verbindlich für alle Gemeinschaften und Staaten. So fühlt sich der Islam dazu aufgerufen, den Herrschaftsbereich des islamischen Staates auszudehnen, die Normen der islami¬schen Gesellschaftsordnung zu universaler Geltung zu bringen, die Institutionen der politischen Struktur des Islams überall in der Welt zu etablieren und somit eine einheitliche Gesellschaft unter islamischem Gottesrecht zu bilden, die möglichst alle Menschen umgreift.
Dieser Universalanspruch wird heute im Zuge der islami¬schen Wiedererweckungsbewegung ausdrücklich proklamiert. Die traditionelle Maxime lautet ja: “Der Islam herrscht, er wird nicht beherrscht.” In den Vorstellungen militanter Gruppen unter den Muslimen haben Koran und Rechtstradition des klassischen Mittelalters deutlich gemacht, mit welchen Mitteln die Universalherrschaft des Islams errichtet und gefestigt und wie die Beziehungen des Islams zu den nicht-islamischen Staaten gestaltet werden sollen.
2.1 Der Einsatz für die Sache Gottes (djihad)
Die Bestimmungen des Korans in Bezug auf den Einsatz für die Sache Gottes stammen aus der Medina-Periode der Predigt Muhammads, d.h. in der Zeit zwischen 622 und 632. Muhammad nimmt gegenüber den Widersachern, die die Muslime mit ihrer Feindseligkeit verfolgen, ihnen den Zugang zu der heiligen Stätte zu Mekka verwehren und sonst keine Abmachungen mit ihnen respektieren, eine härtere Haltung ein. Nach einer Zeit, in der der Koran nur einen bedingten Defensivkrieg gegen die Feinde vorschrieb, erklärte er dann doch den totalen Krieg gegen die unerbittlichen Gegner der islamischen Gemeinde. Die Muslime, so der Koran, sollen in den Kampf ziehen und für ihr Leben (vgl. 8,30), für ihren Glauben (61,8) und für die Einheit ihrer Gemeinschaft (2,217) streiten. “Und kämpft gegen sie, bis es keine Verführung mehr gibt, und bis die Religion gänzlich nur noch Gott gewidmet ist” (8,39; vgl. 2,193). Denjenigen, die durch ihre Beteili¬gung am Kampf ihre Glaubenstreue und ihren Gehorsam unter Beweis gestellt haben, wird der Lohn bei Gott verheißen (vgl. 4,74). Der Endzweck des Kampfes wird erst erreicht und der Friede wird erst dann einkehren, wenn die Ungläubigen endlich den Islam annehmen (vgl. 48,16) und wenn der Islam den Sieg davon trägt (vgl. 9,33). Bis dahin gilt der totale Krieg: “Und kämpft gegen die Polytheisten allesamt, wie sie gegen euch allesamt kämpfen” (9,36). Auf diese Weise werden die Muslime die ihnen von ihren Feinden angetane Gewalt zurück¬schlagen und die Bestrafung der Ungläubigen selbst vornehmen, so erfüllen sie ihre Pflicht, sich für die Rechte Gottes und für die Sicherung der Vorherrschaft des Islams einzusetzen. Dieser Einsatz ist von großer Bedeutung, denn er dient zugleich der Wahrung und Festigung der Einheit der islami¬schen Gemeinschaft und der Wahrung und Ausbreitung der islamischen Lebensordnung, so dass am Ende nur noch eine Gemeinschaft in der Welt besteht oder wenigstens der Islam allein die Oberhoheit über alle übrigen Religionen und Gemeinschaften erlangt (vgl. Koran 9,33; 61,9; 48,28).
Auf diesen koranischen Bestimmungen und Zielsetzungen beruhen die Angaben des islamischen Rechtssystems in der klassischen Zeit zum Einsatz auf dem Weg Gottes..
Dieses Rechtssystem kennt eine Aufteilung der Welt in zwei Gebiete: das Gebiet des Islams und das Gebiet des Krieges. Das Gebiet des Islams ist Gottes Staat, das Reich des Friedens, in dem das islamische Gesetz und die vom Islam festgelegte Gesellschaftsordnung und politische Struktur herrschen. Das Gebiet der Nicht-Muslime wird grundsätzlich als das Gebiet des Krieges bezeichnet. Darin herrscht das Gesetz der Ungläubigen und der Nicht-Muslime vor, das in einigen oder gar zahlreichen Punkten den Bestimmungen des göttlichen Gesetzes widerspricht. Die Muslime haben die Pflicht, ihr eigenes Gebiet gegen die Angriffe der Feinde zu verteidigen. Darüber hinaus haben sie sich aktiv einzusetzen, um auch im Gebiet der Nicht-Muslime dem Gesetz Gottes zum Sieg zu verhelfen und die Rechte Gottes zur Geltung zu bringen.
Wenn das islamische Gebiet sich gegen einen massiven Angriff verteidigen muss, um seine Existenz zu sichern, dann sind alle Muslime gerufen, zum Schutz ihres Gottes zu kämpfen und sich so für die Sache Gottes einzusetzen. In weniger dramatischen Situationen geht man davon aus, dass die Pflicht zum Einsatz für die Sache Gottes dem Staat und der Gemeinschaft als solcher obliegt und dass dieser Pflicht Genüge getan wird, wenn an einem Ort, irgendwo in der Welt, Bemühungen um die Aus¬breitung des Machtbereiches des Islams unternommen werden. Diese Pflicht der Gemeinschaft ist eine ständige Pflicht. Der Einsatz für den Islam hört grundsätzlich erst dann auf, wenn alle Menschen den Glauben an Gott angenommen oder gar sich zum Islam bekehrt haben. Das Endziel des Kampfes “auf dem Weg Gottes”, wie sich der Koran ausdrückt (z.B. 2,190 usw.), wird erst erreicht, wenn auch das Gebiet der Feinde dem Gebiet des Islams angegliedert wird, wenn der Unglaube endgültig ausgerottet ist, wenn die Nicht-Muslime sich der Oberherr¬schaft des Islams unterworfen haben. Solange die alleinige Herrschaft des Islams nicht die ganze Welt umfasst haben wird, bleibt der Einsatz ein Dauerzustand, und zwar ein solcher, der entweder durch militärische Aktionen oder wenigstens durch politische Versuche oder auf irgendeine Weise erfolgen muss.
2.2 Friedenszeiten
Was den Frieden betrifft, so ist er nach der Intention des islamischen Gesetzes der zu erreichende Endzustand der Auseinandersetzung zwischen dem islamischen Staat und den nicht-muslimischen Gemeinschaften. Denn der Einsatz für die Sache Gottes wird geführt, damit die Menschen allesamt als Muslime oder wenigstens als tolerierte Enklaven von Schutzbefohlenen (Dhimmi) in den Grenzen und unter der Vorherrschaft des islamischen Staates in Frieden und Gottesfurcht leben können. Der Friede wird erst erreicht und gilt erst als endgültig, wenn die Grenzen des islamischen Staates bis an die Grenzen der Erde gelangen, wenn also nur noch ein Staat bestehen bleibt: der islamische Staat. Solange dieses Ziel nicht erreicht ist, lebt der islamische Gottesstaat in einem ständigen Konfliktzustand mit den nicht-islamischen Staaten; seine Beziehungen zu den fremden Ländern bleiben die der legalen Auseinandersetzung. Dieser Zustand bedeutet jedoch nicht, dass der Islam sich in ständigem aktivem Kampf gegen die Nicht-Muslime befindet oder einen Dauereinsatz gegen die fremden Völker führen muss. Das bedeutet auch nicht, dass der islamische Staat keine Beziehungen irgendwelcher Art mit ihnen unterhalten darf. Verträge und Abkommen dürfen geschlossen, Vereinbarungen getroffen und kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen aufgenommen und gepflegt werden. Aber diese Kontakte und Beziehungen beinhalten in der Einschätzung des klassischen Rechtssystems des Islams keineswegs die Anerkennung der Legitimität der fremden Staaten. Mit der Aufnahme solcher Beziehungen wird lediglich die Tatsache anerkannt, dass auch in den nicht-islamischen Staaten, solange sie bestehen, eine gewisse Autorität und eine gewisse soziale und politische Ordnung notwendig sind. So ist man bereit, die bestehende Obrigkeit und die herr¬schende Gesellschaftsordnung sowie die staatlichen Institu¬tionen zur Kenntnis zu nehmen und mit der jeweiligen Regie¬rung im Interesse der Muslime in Kontakt zu treten und vorübergehend friedliche Beziehungen zu vereinbaren.
Diese friedlichen Beziehungen heben aber die grundsätzli¬che Aufteilung der Welt in ein “Gebiet des Islams” und ein “Gebiet des Krieges” nicht auf. Für die Dauer der Friedens¬zeit bezeichnen Rechtsgelehrte das Gebiet des Krieges als “Gebiet des Friedens” oder “Gebiet des Vertrags”. Betont wird jedoch, dass die Zulässigkeit ausgehandelter Verträge und vereinbarter Friedenszeiten nicht die Gleichstellung nicht-islamischer Länder mit dem islamischen Staat bedeutet. Vorübergehende und befristete Friedenszeiten sind nur eine Pause auf dem Weg zur Islamisierung der ganzen Welt. Dieses Ziel ist zwar schwer zu erreichen und muss in der Alltags¬praxis ein frommer Wunsch bleiben, und man muss davon ausge¬hen, dass im Normalfall der Einsatz für die Sache Gottes in seinem aktiven Ausdruck nur zu einer ruhenden, also nicht positiv betriebe¬nen und erfüllten Pflicht wird. Aber die theoretische Zielsetzung bleibt bestehen und konfrontiert die Praxis immer wieder mit dem von Gott gewollten Idealzustand und Ziel.
Man kann die Vorstellungen des islamischen Rechtssystems der klassischen Zeit in Bezug auf den Einsatz für die Sache Gottes und die heute noch bzw. wieder von militanten Gruppen in der islamischen Welt vertretene Lehre wie folgt zusammenfassen: Friede ist der Zustand innerer Ordnung des Staates, wenn dieser nach den Gesetzen Gottes regiert wird und Ungläubigen, Abtrünnigen, Aufständischen und ähnlichen Existenz gefähr¬denden Gruppen keinen Freiraum gibt, sondern sie ausrottet oder bekehrt. Nach außen hin bedeutet Frieden den Endzustand, der nach der siegreichen Bekämpfung und Niederwerfung der nicht-muslimischen Gemeinschaften erreicht wird, so dass nur noch der islamische Staat besteht, in dem Nicht-Muslime, wenn sie nur Anhänger einer vom Islam anerkannten Offenbarungs¬religion und Besitzer heiliger Schriften sind, den Rechts¬status von Schutzbefohlenen des Islams haben.
Damit erfüllt die politische Gemeinschaft der Muslime (Umma genannt) ihre Aufgabe, Trägerin und Wahrerin der Rechte Gottes und Hüterin der nach Maßgabe der Rechte Gottes festgesetzten Rechte der Menschen zu sein.
2.3 Neue Akzentsetzung in der modernen Zeit
Gegenüber dieser klassischen Position betonen andere Denker in der islamischen Welt die Priorität des Friedens, nicht nur als Endzustand, sondern als Normalzustand der Beziehungen der Menschen und der Gemeinschaften zueinander. Im zeitgenössischen Islam erheben sich nicht nur die Stimmen derer, die eine islamische Weltrevolution im Namen Gottes und seiner Religion fordern und von einer Vorherrschaft des Islams in der Welt träumen. Zahlreiche Gelehrte, deren Verankerung im traditionellen Islam keinem Zweifel unter¬liegt, sprechen sich für den Vorrang des Friedens und für eine grundlegende Reform der klassischen Theorie des Einsatzes für die Sache Gottes im islamischen Rechtssystem aus. Gegenüber den militanten Staaten und Gruppen, die ihren Traum von einem islamischen Gottesreich mittelalterlicher Prägung laut verkünden, melden sie sich unmissverständlich zu Wort und verlangen eine neue Sicht der Beziehungen der Völker zuein¬ander, in der folgendes Koranwort sich verwirklicht und in seinen Auswirkungen alle Gemeinschaften erfasst: “Gekommen ist zu euch von Gott ein Licht und ein offenkundiges Buch, mit dem Gott diejenigen, die seinem Wohlgefallen nachgehen, die Wege des Friedens leitet” (5,15-16).
3. Anfrage an die theokratische Staatsordnung des Islams
Christen werden im islamischen Staat in den Rechtsstatus von Schutzbefohlenen (Dhimmi) verwiesen. Kraft des Dhimmi-Abkommens garantiert ihnen der Islam innerhalb seiner Grenzen den Schutz ihres Lebens und ihres Eigentums, ihre Religions-freiheit, eine relative Verwaltungsautonomie und eine eigene Rechtsprechung im Bereich des Personen-, Ehe-, Familien- und Erbrechtes. Was das Zivilrecht, das Strafrecht und das Prozessrecht anbelangt, so sind die Christen den Muslimen nicht ganz gleichgestellt. Auch haben sie im Prinzip keinen Zugang zu Regierungsämtern und zum Militärdienst, denn dies würde ihnen Macht über muslimische Bürger verleihen. Für den Schutz, den ihnen der islamische Staat gewährt, haben sie Abgaben zu entrichten und sich gegenüber dem Staat loyal zu verhalten.
Damit sieht das klassische Rechtssystem des Islams die Bildung einer Gesellschaft mit zwei Klassen von Bürgern vor. Die einen, die Muslime, sind die eigentlichen Bürger; die anderen werden toleriert, ihnen wird ein Lebensraum ver¬schafft, aber ihre Rechte sind nur die, die ihnen der muslimische Staat gewährt. Und diese gewährten Rechte gehen von einer grundsätzlichen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit zwischen den Muslimen und den ihnen unterworfenen Schutzbe¬fohlenen aus. So sind Muslime und Nicht-Muslime nicht alle Träger der gleichen Grundrechte und der gleichen Grund-pflichten. Sie sind auch nicht grundsätzlich gleichgestellt vor dem Gesetz. Die Nicht-Muslime sind zwar in den Augen des Islams nicht recht- und schutzlos, sie werden nicht den Muslimen als freie Beute preisgegeben. Dennoch werden sie im eigenen Land als Bürger zweiter Klasse behandelt.
Es stellt sich also die Frage, ob es heute tragbar ist, einen Staat nach diesem Modell zu errichten bzw. wieder¬zuerrichten. Erforderlich ist wohl eine Staatsstruktur, die den Gemeinschaften und allen Bürgern ermöglicht, loyal zum gemeinsamen Land zu leben und den unabweisbaren Anspruch zu erheben, in diesem Land, d.h. in ihrem eigenen Land nicht als Fremde leben zu müssen, sondern als gleichberechtigte Bürger zu gelten und die gleichen Grundrechte und Grundpflichten zuerkannt zu bekommen. Nur so kann verhindert werden, dass in einer pluralistischen Gesellschaft die einen den Staat für sich konfiszieren und die anderen zu Schutzbefohlenen deklassiert werden, welche dann dem Willen und Entgegenkommen wie auch der Willkür und dem Gutdünken der Mehrheit ausgelie¬fert sind. Und nur so kann verhindert werden, dass die “nur tolerierten” Bewohner Angst haben müssen, eine aufgezwungene Leidensgeschichte zu durchleben. “Vielleicht ist es doch nicht vermessen zu hoffen, dass der zeitgenössische Islam eine Gesellschafts- und Staatsstruktur findet, durch die er ohne Identitätsverlust seine wahre Rolle in der Welt erfüllen kann, als ‘Zeuge für die Gerechtigkeit’ (Koran 5,8) und als mitwirkender Faktor bei der Verwirklichung der universalen Solidarität der Menschen und bei der Herstellung einer Gesellschaftsordnung, in der alle Bürger vor dem Gesetz grundsätzlich gleichgestellt und im praktischen Leben gleichberechtigt sind, in der über eine geschenkte Toleranz hinaus die unverzichtbaren Menschenrechte für alle vor¬behaltlos anerkannt werden” (aus meinem Buch: Toleranz im Islam, S. 185).
Literaturhinweise
Der Koran. Übersetzung von Adel Theodor Khoury. Unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah (GTB Sachbuch 783), Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 5. Auflage 2011.
Antoine Fattal, Le statut légal des non-musulmans en pays d’Islam, Beirut 1958.
Majid Khadduri, War and peace in the law of Islam, Baltimore 1955, 2. Aufl. 1979.
A.Th. Khoury, Toleranz im Islam, München/Mainz 1980; 2. Aufl.: CIS-Verlag, Altenberge 1986.
-, Islamische Minderheiten in der Diaspora, Kaiser/Grünewald, München/Mainz 1985.
-, Islam: Frieden oder “heiliger Krieg”?, in: Frieden – was ist das?, hrsg. A.Th. Khoury / P. Hünermann (Herderbücherei 1144), Freiburg 1984, S. 51-75.
-, Der Islam: sein Glaube – seine Lebensordnung – sein Anspruch (Herder Taschenbuch 5246), Freiburg, 6. Auflage 2001.
Albrecht Noth, Heiliger Krieg und heiliger Kampf in Islam und Christentum, Bonn 1966.
-, Möglichkeiten und Grenzen islamischer Toleranz, in: Saeculum 29 (Freiburg/München 1978), S. 190-204.
Rudi Paret, Toleranz und Intoleranz im Islam, in: Saeculum 21 (Freiburg/München 1970), S. 344-365.